Liebe Gäste, ich darf Sie im Namen der Stadt Königswinter ganz herzlich begrüßen.
Gut, dass Sie heute hier sind.
Die Vorbereitung zu diesem Tag ist mir nicht leichtgefallen. Heute über den 9. November 1938 zu sprechen, ohne einen Blick auf die brutale Realität in Israel, den Gazastreifen – die Region zu richten –, ist unmöglich.
Es ist erst wenige vier Wochen her, als die Hamas in das Land Israel einfiel. Terroristen Babys, Kinder, Frauen und Männer brutal ermordeten und mehr als 240 Personen als Geiseln in den Gazastreifen verschleppten.
Die aktuellen Bilder menschlichen Leids und die Hilflosigkeit – aber auch der ungezügelte Hass – treiben uns um.
Und bei uns?
Das Bundeskriminalamt hat in den vergangenen vier Wochen mehr als 2.600 Straftaten in Deutschland gezählt, die in einem Zusammenhang mit den Terroranschlägen der islamistischen Hamas gegen Israel stehen.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, hatte am Dienstag von mehr als 2.000 verzeichneten Straftaten gesprochen und gesagt, „was wir seit dem 7. Oktober sehen, ist Judenhass auf einem in Deutschland seit Jahrzehnten nicht mehr dagewesenen Niveau”
Hier die richtigen Worte zu finden ist nicht leicht.
Ich möchte es (mit aller Vorsicht) so versuchen:
Der 9. November 1938 gehört zu den dunkelsten Kapiteln der deutschen Geschichte.
Vor 85 Jahren wurden Jüdinnen und Juden in aller Öffentlichkeit erniedrigt und geprügelt, verschleppt und misshandelt. Über 100 von ihnen wurden in der Nacht auf den 10. November 1938 ermordet. Wohnungen, Büros und Geschäfte der deutschen Juden wurden verwüstet und ausgeraubt, die jüdischen Gotteshäuser gestürmt, zerstört und in Brand gesetzt.
Auch eine Vielzahl von Menschen aus unserer Stadt waren von diesen Gräueltaten des rechten Mobs betroffen.
Auch hier in Königswinter.
Das Pogrom steht für den Antisemitismus in Deutschland und einer Entwicklung, die in einer „Endlösung der Judenfrage“ im Sinne der Ermordung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich mündete.
Bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im April 1933 wurde mit dem Boykott jüdischer Kaufleute, Ärzte, der Entlassung jüdischer Beamter und dem Berufsverbot jüdischer Künstler die jüdische Bevölkerung zu Menschen 3. Klasse degradiert und ihrer Bürger- und Menschenrechte beraubt.
Es sei daran erinnert, dass diesem barbarischen System neben Millionen von Kriegsopfern und ca. 6 Millionen Juden aus ganz Europa auch Kranke, Kommunisten und Sozialdemokraten, Sinti und Roma, Homosexuelle, Christen, Zeugen Jehovas u.a. zum Opfer fielen.
Sie waren Freunde und Nachbarn.
Und da sich nach dem 9. November kaum Widerstand im In- und Ausland zeigte, war es wohl die „Generalprobe“ für den später von den Nazis als „Endlösung“ bezeichneten industriell durchgeführten und penibel bürokratisch organisierten Massenmord.
Im Rückblick auf das Geschehene, denken wir heute auch an die Konsequenzen für Gegenwart und Zukunft.
In diesen Tagen versuchen wir das Unfassbare, das sich hinter diesen Schilderungen verbirgt, sichtbar werden zu lassen. Beispielsweise mit den Namen und den Lebensgeschichten jüdischer Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Teil und nicht selten Mittelpunkt unserer städtischen Gesellschaft und Geschichte waren und heute noch sind.
Wir dürfen nicht nachlassen, uns der schrecklichen Epochen unserer Geschichte zu erinnern
– als Mahnung, dass so etwas nie wieder passieren darf
– zur Erinnerung daran, dass nicht nur woanders auf der Welt heute noch grausamste Verbrechen im Namen politischer, ethnischer und religiöser Machtansprüche begangen werden.
Damals, wie heute.
Eine Lehre aus unserer Geschichte verlangt sehr konkret und nachdrücklich, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland frei und sicher leben können. Dass sie nie wieder Angst haben müssen, ihre Religion, ihre Kultur offen zu zeigen. Genau diese Angst aber ist seit dem schrecklichen terroristischen Überfall der Hamas am 7. Oktober mit aller Wucht zurück.
Solidaritätsbekundungen auf Marktplätzen und in Ansprachen folgten.
Als vermeintliche Mehrheitsgesellschaft müssen wir uns aber sehr selbstkritisch die Frage stellen, ob wir genügend tun, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden.
Ich sage es ganz deutlich: Ich bin irritiert, wie schnell wir es uns im Alltag wieder einrichten konnten. Es verwundert schon, dass es uns – abgesehen von vereinzelten Klarstellungen – schwerfällt, Antisemitismus beim Namen zu nennen und gegen religiöse Intoleranz Position zu beziehen. So als ginge es uns nichts an.
Nur allzu gut funktionierte die historische Einordnung dieses barbarischen Überfalls auf Unschuldige in die Chronik des Nahostkonflikts. Eines Konflikts, der weiterhin Opfer auf allen Seiten fordert und der einen festen Platz in unserer Welt aus Krisen und Konflikten einnimmt.
Ja.
Antisemitismus ist zuallererst ein Problem für Jüdinnen und Juden, die diskriminiert, bedroht oder angegriffen werden. Er ist aber auch ein Problem für diejenigen, die selbst nicht antisemitisch diskriminiert werden, denn er zeigt auf, das Menschen in Deutschland nicht von der Gleichwertigkeit aller ausgehen. Wie eine Gesellschaft Antisemitismus bekämpft, zeigt, wie klar sie demokratische Werte insgesamt verteidigt.
Bei Antisemitismus denken viele an den nationalsozialistischen Massenmord an Jüdinnen und Juden, die Shoah. Das Erinnern an diesem Tag hilft uns bewusst zu machen, wohin Menschenhass führen kann. Es führt leider aber auch dazu, dass viele Antisemitismus auf die Shoah reduzieren. Antisemitismus fängt aber schon viel früher an: Antisemitische Angriffe passieren verbal, schriftlich, in Presseberichten und Posts in sozialen Medien, in Äußerungen in der Supermarktschlange, in Fotos und Videos und tätlich.
„Schalom“ heißt nicht nur Frieden. „Schalom“ heißt auch Toleranz, Respekt und Verständnis im Alltag, in den Familien und im Freundeskreis, in der Schule und am Arbeitsplatz. Hier müssen wir unsere Augen offenhalten.
Ich bin froh, dass in unserer Stadt in unterschiedlichster Weise an die Ereignisse des 9. November 1938 gedacht wird und wie heute Schülerinnen und Schüler ihren Beitrag zur Mahnung und zum Gedenken beitragen. Mein Dank geht an alle, die die Erinnerung wachhalten.
Liebe Gäste, liebe Schülerinnen und Schüler.
Ich habe die große Hoffnung, dass wir alle und gerade die jüngere Generation aus unserer Geschichte die richtigen Lehren ziehen und wir uns gegen rechtsradikale, fremdenfeindliche und antisemitische Tendenzen wenden. Nicht nur heute mit mahnenden Worten – sondern stetig mit unserem Tun.
Ich bin tief davon überzeugt, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft, Religion, Hautfarbe, sexueller Orientierung friedlich in unserer Stadt zusammenleben können und wollen.
Und niemand sollte mehr Angst haben vor einem Mob, wie er sich auch in Königswinter vor 85 Jahren austoben konnte. An einem Tag wie dem 9. November 1938.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.